FREUDE SCHÖNER GÖTTERFUNKEN
(An die Freude)
»Ohmeingottistdasgeil«, rang Debbie nach Luft und nach Worten.
»Nu hyperventilieren se ma nich gleich«, versuchte Kyla sie zu beschwichtigen.
Vergeblich. Mit seligem Lächeln auf den Lippen beugte Debbie sich über den Schreibtisch und betrachtete den Globus, die elegant geschwungene Uhr, die Kerzenleuchter, das filigrane gläserne Tintenfässchen, die hölzerne Tabaksdose mit der Perlmuttscheibe auf dem Deckel, das aufgeschlagene, in altdeutscher Schrift gesetzte Buch und schließlich das Manuskriptblatt, das da lag als wäre der Verfasser gerade erst von seiner Arbeit aufgestanden, hätte diese nur kurz unterbrochen und würde jeden Moment wieder zur Tür hereinkommen und wäre nicht schon seit zweihundert Jahren tot. Sogar der Federkiel lag noch da, quer über dem Monolog der Marfa aus dem zweiten Akt des Demetrius. Man musste schon genau hinsehen, um zu bemerken, dass keine feuchte Tinte am Federkiel klebte und dass die Manuskriptseite nicht das Original sondern ein Faksimile war und unter Glas lag.
Debbie konnte sich kaum losreißen. Langsam ließ sie ihren verzückten Blick wandern. Die drei grünen Bücherregale an der Längsseite des Raumes, der Klingelzug, das schmale Bett ...
»Wie die zu vier Kindern gekommen sind, würd mich auch mal interessieren«, unterbrach Kyla äußerst profan Debbies Gedankengang.
Kylas Blick ruhte ebenfalls auf dem handtuchschmalen Bett, das in der Ecke hinter Schillers Schreibtisch stand.
Empört funkelte Debbie sie an. »Denkst du eigentlich immer nur ans Poppen? Spürst du nicht den Hauch der Geschichte, der uns hier umweht?«
»Hm, ja, 's zieht 'n bisschen ... Sind Sie denn bald mal fertig mit Kucken? Können wir denn bald mal gehen?«, quengelte Kyla.
»Kulturbanausin.« Debbie rümpfte die Nase. »Sie können ja schon allein ins Hotel gehen - ich schau mir das hier ganz genau an.«
Sie steckte ihr immer noch gerümpftes Näschen ganz tief in ihr neu erworbenes Buch Schillers Wohnhaus in Weimar.
»Ich mein, die Gitarre, die nebenan an der Wand hängt, ist ja wohl nur geil«, lenkte Kyla ein. »Die geh ich mir mal eben nochmal ankucken.«
Debbie folgte Kyla in das sogenannte Gesellschaftszimmer, die Nase immer noch tief in ihrem Buch vergraben.
»Die haben Gitarre damals Guitharre buchstabiert«, verkündete sie, »und das Teil ist aus Ahorn-, Fichten- und Ebenholz.«
»Die isch ja sooo kloi«, trällerte Kyla begeistert und legte den Kopf schief, um die seltsamen dicken Saiten besser betrachten zu können.
Debbie blickte von ihrem Buch auf. »Also ich könnt da nicht drauf spielen. Du?«
Kyla schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre langen rotbraunen Haare nur so flogen. »Nee, aber Myra bestimmt. Die kann alles spielen, wenn's nur genug Saiten hat.«
Debbie hatte mittlerweile weiter in ihrem Buch geblättert. Plötzlich lachte sie auf. »Das muss ich dir vorlesen: Schillers Sohn Karl hat über seinen Vater geschrieben ... da er selten zu Mittag wegen des späten Aufstehens aß, verband er das Mittag- und Abendessen gewöhnlich.«
Kylas Augen wurden ganz rund vor Staunen. »Ich hätte nie gedacht, dass es etwas gibt, was ich mit Friedrich Schiller gemeinsam habe!«
Kyla vergaß sogar, dass sie vor ein paar Minuten noch gedrängelt hatte und spähte über Debbies Schulter in das Buch. Aufmerksam studierte sie den Lageplan des zweiten Stockwerks. »Da, im Schlafzimmer und im Ankleideraum waren wir noch nicht.«
Einträchtig wanderten die beiden in Schillers Schlafzimmer, dass jedoch zu ihrer beider großen Enttäuschung bis auf ein Bild und eine eindeutig moderne Stehlampe leer war. »Aber 'ne schücke Tapete«, kommentierte Kyla, die langsam doch auf den Geschmack kam.
Im Ankleideraum studierten sie gründlich Schillers Kleiderliste aus dem Jahr 1804, die im Buch abgedruckt war.
»Nein, kuck dir mal das an! Ein Paar lederne Hosen - Lederhosen, Gitarre anner Wand, spät aufstehen - der Typ war 'n Rocker!« Kyla kriegte sich kaum noch ein vor Begeisterung. »Langsam wird mir der Knabe sympathisch! Schade, dass er schon tot ist, ich tät ihm glatt 'ne Freikarte für unser Konzert spendieren.«
Am übernächsten Abend würden The Poriomaniacs, die Band von Deborah Lorenz-Feldtkeller, Leadgesang und Rhythmusgitarre, und Kyla-Glädje Sylvass, Leadgesang und Bass, ein Konzert im Congress Centrum Neue Weimarhalle geben.
Da die kulturbegeisterte Debbie, deren Geschmack extrem weitgefächert war und von Shakespeare bis Quentin Tarantino reichte, noch nie in Weimar gewesen war, aber unbedingt einmal auf Schillers und Goethes Spuren wandeln wollte, hatte sie diese sehr frühe Anreise geplant.
Kyla fiel zwar - wie von Debbie richtig festgestellt - eher in die Kategorie Kulturbanausin, hatte sich aber spontan zum Mitkommen entschlossen, als sie im Internet Fotos des Fünfsternehotels sah, das als poriomanisches Domizil in Weimar auserkoren war.
»Bauhaus, Goethe, Schiller und den ganzen andern Kram, von dem du so schwärmst, kannste behalten, aber dieser Whirlpool schreit geradezu nach mir! Und bevor die Tour weitergeht noch zwei Tage Entspannung im Luxushotel sind mir grad recht!«
Die Poriomaniacs hatten bereits zwanzig Konzerte ihrer aktuellen Tour absolviert. Bei ihren beiden ersten großen Tourneen hatten sie jeweils über dreißig Konzerte am Stück gespielt und immer nur hie und da einen Day Off eingestreut. Der ging dann meistens für die Anreise zum nächsten Konzertort drauf. Solche Strapazen wollten sie sich nicht wieder antun, darum hatten sie diesmal ihre Tour in zwei Teile unterteilt und zwischendurch zwei Wochen Konzertpause eingeplant.
Doch Urlaub war für die Poriomaniacs trotzdem nicht angesagt gewesen in diesen vierzehn Tagen. Vor ein paar Tagen war die zweite Singleauskopplung aus ihrer neuen CD Hot & Bothered erschienen, ein Song mit dem Titel Love is a Lonely Business. Natürlich musste ein Videoclip gedreht werden und diverse TV-Shows wurden mit der geballten poriomanischen Anwesenheit beehrt. Vervollständigt wurde das Quartett durch Leadgitarristin Myra Kuhn und Schlagzeugerin Stella Marconi, die beiden würden aber erst am Tag des Konzertes in Weimar eintreffen. Myra und Stella wollten sich vor dem ersten von vierzehn weiteren Konzerten noch ein wenig zu Hause erholen - und Kyla eben im Fünfsternehotel.
Und so hatten Debbie und Kyla also heute Mittag Schlag zwölf im wunderschönen WeimarerDorint Hotel direkt am Park an der Ilm eingecheckt.
Doch aus Kylas Entspannungsplänen wurde vorerst nichts, denn Debbie hatte sie dann doch gnadenlos mitgeschleift, als es an die Erkundung des Klassikerstädtchens ging. Als allererstes stand natürlich ein Besuch im früheren Wohnhaus des von Debbie so leidenschaftlich verehrten Friedrich Schiller auf dem Plan. Und da Debbie alles ganz genau betrachtet hatte, zwei komplette Rundgänge durch das gesamte Haus gemacht und jedes Detail in ihrem Buch über das Schillerhaus nachgeschlagen hatte, hatte diese Besichtigung natürlich wesentlich länger gedauert als Kyla eigentlich lieb war. Als die beiden wieder an die frische Luft kamen, war es bereits kurz vor achtzehn Uhr. Und während Debbie immer noch ihren schwärmerischen Gesichtsausdruck zur Schau trug, dachte Kyla mittlerweile nur noch an eins.
»So, und wo gibt's jetzt was Essbares? Möglichst in der Nähe, Sie wissen, ich lauf nicht so gern.«
Debbie gruschtelte den kleinen Weimarstadtplan aus ihrer Handtasche, den sie im Hotel bekommen hatten.
»Wie wär's mit dem Restaurant im Hotel Elephant? Das ist gleich am Markt hier ums Eck.«
Sie setzten sich in Bewegung, doch Kyla hatte Bedenken. »Ich glaub, das ist mir zu aufgebrezelt. MäcDoof wär mir lieber.« Irgendwas hatte Kyla heute immer zu maulen. Schon fand sie den nächsten Anlass - sie kamen an einem Café vorbei, dessen im Freien stehende Stühle und Tische gerade zusammengeräumt wurden und im Laden daneben drehte man gerade das Schild an der Tür um auf Geschlossen.
»Das gibt's ja wohl nicht«, ereiferte Kyla sich. Mit dramatischer Geste sah sie auf ihre Armbanduhr. »Ladenschluss achtzehn Uhr! Wo sind wir denn hier gelandet?«
»Hier zählen halt mehr die geistigen Werte und nicht so sehr das Materielle«, sinnierte Debbie.
Kyla starrte sie sprachlos und komplett genervt an. Normalerweise war Debbie die Shopperin vor dem Herrn und Ladenschluss war eins ihrer persönlichen Unworte des Jahres aber im Moment schwebte sie mindestens fünf Zentimeter über dem Boden.
Doch dann erblickte Kyla den Marktplatz mit seinen zahlreichen Wurstbuden und war selig. In Windeseile hatte sie eine Thüringer Rostbratwurst erstanden und überzog diese großzügig mit Ketchup. Nun war es Debbie, die etwas zu mäkeln hatte. »In meinem Weimarreiseführer steht, dass man Thüringer Rostbratwurst mit Senf isst, niemals mit Ketchup!«
»Mir doch egal«, schmatzte Kyla, »du bist ja nur neidisch, weil du grad mal wieder eine deiner vegetarischen Phasen hast!«
Immer noch futternd drehte sie sich im Kreis. »In welche Richtung geht's zum Hotel? Ich hab für heute genuch geseh'n von diesem malerischen Städtchen, jetz hab ich ein Date mit einem Whirlpool und der wartet schon sehnsüchtig auf mich! Morgen kommt Tommi angereist und dann hat man ja doch keine ruhige Minute mehr.«