Carmelita
blinzelte. Blass fiel die Morgensonne durch das vorhanglose Fenster. Ihre große
Schwester Sofía zog Carmelita das Hemd weg, mit dem sie sich in Ermangelung
einer Bettdecke zugedeckt hatte.
»Zeit zum Aufstehen, Carmelita.«
Carmelita gähnte und rollte von ihrer gestreiften
Matratze. Langsam trottete sie ins Bad und schlug halbherzig nach einigen der
umherschwirrenden Fliegen. Vor dem fast blinden, fleckigen Spiegel kämmte sie
sich sorgfältig.
Wieder zurück im Schlafzimmer, das sie sich mit
ihren Geschwistern teilte, zog Carmelita sich rasch an. Dann holte sie eine
kleine silberne Digitalkamera aus einem Fach des überquellenden,
altersschwachen Kleiderschrankes. Dieser Schrank enthielt einen Großteil der
Besitztümer der sechsköpfigen Familie und ächzte förmlich unter der Last von
Kleidungsstücken, Schachteln, Dosen und anderen Gegenständen.
Mit einem leisen Pling schaltete sich die Kamera
ein und auf dem Display erschienen Carmelitas nackte Füße und der staubige
Fußboden. Sie kicherte und drehte an dem Rädchen, das sich oben rechts an der
Kamera befand. Ihre Füße wurden größer. Gerade wollte Carmelita auf den
Auslöser drücken, da wurde ihr der Fotoapparat aus der Hand gerissen.
»Das ist kein Spielzeug für kleine Kinder«,
schimpfte ihr großer Bruder Jorge. Jorge war schon fünfzehn und durfte - wie
Carmelita fand - alles. Carmelita war acht und durfte nichts. Zornestränen
brannten hinter ihren Augen. Sie schluckte, wollte sich nichts anmerken lassen.
»Aber ich hab die Kamera gefunden«, protestierte
Carmelita und wollte nach dem Fotoapparat greifen, der so hübsch silbern
glänzte. Gut, das Gehäuse war ein wenig zerschrammt und das Display hatte einen
kleinen Sprung, aber trotzdem erschien Carmelita die kleine Digitalkamera wie
ein wertvoller Schatz. Ein Schatz, den sie gefunden hatte! Also wollte sie auch
damit spielen!
Doch ihr Griff nach der Kamera ging ins Leere,
Jorge hob sie hoch, außer Reichweite seiner kleinen Schwester. Ohne Carmelita
eines weiteren Blickes zu würdigen, schaltete Jorge die Kamera aus und
verstaute sie im obersten Fach des Schrankes, wo Carmelita nicht an sie herankam.
Dann packte er Carmelita mit beiden Händen an den Schultern und schob sie vor
sich her.
»Los jetzt, wir müssen zur Arbeit.«
Wenig
später standen Carmelita, Sofía und Jorge im Zug, der sie in die Innenstadt von
Buenos Aires brachte. An den meisten Tagen und Abenden sammelten sie Papier,
Pappe und leere Plastikflaschen im Microcentro, die sie dann nach Gewicht an
Recyclinghändler verkauften. Doch heute trugen sowohl Sofía als auch Jorge
schwere Umhängetaschen, die vollgestopft waren mit Stadtplänen und Fremdenführern
über Buenos Aires. Diese wollten die Geschwister heute in der Subte verkaufen.
http://amzn.to/1oTwWnA
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.